Betterov

Eröffnungsapplaus. Die Leute klatschen beim Einmarsch des Athleten. Aufwärmübungen. Dazu verhallte Gitarren. Drums. Eine bittersweete Melodie, die langsam mit dem Jubel der Menge verschwimmt. Konzentration. Die letzten Momente, bevor die Spiele beginnen. Kurzer Rückblick: Eigentlich stammt Betterov vom Land. Dörfliche Weltvergessenheit irgendwo in der thüringischen Pampa. Von da, wo man sofort wegzieht, wenn man alt genug ist. Mit 17 geht er ans freie Theater, um sich dem Smalltown-Grau mit Schauspiel und Musik entgegenzuwerfen. 2015 der nächste Schritt: Berlin. Vorübergehende Schockstarre beim Couch-Crashing. Eine völlig neue Welt mit neuen Eindrücken, die Betterov in seinen Songs verarbeitet. Tagsüber sitzt er mit fünfhundert anderen Bewerbern bei irgendwelchen Vorsprechen, nachts sucht er sich während erster Gigs in Bars und Kneipen ein Ventil für das, was unbedingt aus ihm raus muss. Anfang 2020 releast der 28-jährige Musiker und Schauspieler seine erste EP „Viertel vor Irgendwas“, auf der er Einflüsse aus Indierock, Post Punk und Pop Noir zu einem sympathisch kantigen Uneasy-Listening-Mix kombiniert und direkt als eine der spannendsten neuen Stimmen innerhalb der deutschsprachigen Musikszene gefeiert wird. Könnte schlechter laufen. Ein Newcomerstatus, den Betterov gleich im Anschluss mit den Singles „Dussmann“, „Bring mich nach Hause“ und „Der Teufel steckt im Detail“ unterstreicht. Betterovs Musik ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst, bei der er eine ganze Sammlung von Gegenentwürfen zeichnet. Songs vom Sich-Auflehnen. Songs vom Kampf. Vom Durchbrechen der inneren Barrikaden. Und vom Aufbau, bei dem er sich all den Ängsten und Selbstzweifeln entgegenstellt, um negative Emotionen in positive Energie zu transformieren. Bespiegelung, Analyse und Selbstverortung, die er nun auch auf seinem ersten Album praktiziert. Wobei „Olympia“ keinesfalls sein „Berlin“-Album und Betterov nicht David Bowie oder Iggy Pop sein will. Wenn überhaupt, so ließe sich vielleicht ein wenig Ähnlichkeit mit Ian Curtis attestieren. Je nach Lichtverhältnissen. „Olympia“ entstand während der Pandemie und beschreibt schwierige Zeiten. Umgeben von Nebel und Gefühlen, die in Wirklichkeit Symptome sind, in einer Welt, die man nicht mehr versteht. Momentaufnahmen einer fast allbestimmenden Schwere. Eine Abwärtsspirale, die Betterov bezeichnend auf dem Titeltrack von „Olympia“ eingefangen hat. Die höchste Spitze als Metapher für den absoluten Tiefpunkt. Bittere Ironie des Schicksals als Stilelement seiner Texte; Zenith des Scheiterns. Denn am Ende schaut man nur noch YouTube-Videos. Liegt rum, versinkt in alten Sport-Videos und lässt gelähmt die Stunden verstreichen. Während Menschen auf dem Bildschirm in 47 Sekunden 100 Meter Schwimmen und damit ihr komplettes Leben und die Welt verändern, bekommt man selbst nichts mehr auf die Reihe. Totaler Stillstand. Das Bild ruckelt. Zwischen Apathie, Slo-Motion-Sadness und Geschwindigkeitsrekorden entsteht der Drang, etwas derart Destruktives in etwas Konstruktives zu transformieren. Ein Ziel, das Betterov auf seinem Debütalbum erreicht hat. „Olympia“ sucht nach Gründen und spendet Hoffnung. Es geht um Liebe, um verlorene Liebe, um den Wunsch, jemand anderes zu sein, sich selbst zu finden. Die Sehnsucht, Teil einer Gruppe zu sein. Nur um am Ende zu erkennen, dass die eigene Unangepasstheit eigentlich die größte Stärke ist. Gemeinsam mit befreundeten Musikern ist unter Aufsicht des Producer-Duos Tim Tautorat (Pharrell, Herbert Grönemeyer, AnnenMayKantereit) und Dennis Borger (Razz, Anoki, Trille) in den Berliner Hansa-Studios eine Scheibe entstanden, deren dichter, kompromisslos rauer und doch einnehmender Sound viel mehr nach Band, als desperatem Alleinunterhalter klingt. Guter Move. „Olympia“ ist das Erwachen aus der Lähmung. Befreiung. Chronik eines angekündigten Neubeginns. Der Versuch einer Selbstreflexion und dem Umgang mit der eigenen Psyche, wie Betterov auch mit dem Track „Böller aus Polen“ zeigt. Ein Song über eine Liebe, die man selbst kaum fassen kann. Wenn das Selbstwertgefühl am Boden ist und es einem so vorkommt, als wäre man an einem fiktiven Ort geboren, an dem alles einfach nur laut, dreckig und zum Fürchten ist. Wer sollte einen da schon finden? Doch plötzlich passiert genau das. Und obwohl das eigene Leben für einen selbst zum Davonlaufen ist, bleibt diese Person, während sie das alles auch zu sehen scheint. Einfach so. Ein innerer Furor, den Betterov auch auf dem schmerzhaften Heartbreaker „Urlaub im Abgrund“ und dem nachdenklichen „In meiner Straße“ in Schach zu halten versucht, während das Thema Außenseitertum auf sarkastische Weise auf „Die Leute und ich“ aufgelockert wird: Ein Lied über die anderen. Jene undefinierbare Masse, von der man oft nur geduldet wird, um letztendlich doch verstoßen zu werden. So bleibt einem nichts Anderes übrig, als „sie“ immer weiter zu erforschen und zu versuchen, aus „ihnen“ schlau zu werden. Man lebt weiter unter Leuten und weiß doch gleichzeitig so wenig über sie. Betterov reizt der Bruch. Der Widerspruch. Die Diskrepanz, wie er auch in Form einer symbolischen Exkursion durch das bekannte Berliner Kulturkaufhaus „Dussmann“ sowie dem psychedelischen Late-Night-Roadmovie „Bring mich nach Hause“ demonstriert, auf dem er die krassen Gegensätze aus glamouröser Showbiz[1]Scheinwelt und knallharter Realität aufeinanderprallen lässt. Vorsicht, Splitter. Schein, Sein und das Dazwischen finden sich auch in dem Song „Berlin ist keine Stadt“ wieder. Es gibt Orte, die aus viel mehr bestehen, als nur der Summe ihrer einzelnen Teile. Autos, Menschen, Häuser, Straßen, Spätis, Dönerbuden. Und dann ist da noch das, was wir nicht sehen, sondern nur fühlen. Emotionen und Erlebnisse, die wir untrennbar mit bestimmten Plätzen verbinden und die wie ein diffuser Schleier über der Wirklichkeit liegen. Hinter jeder Ecke warten Erinnerungen an schöne oder traurige Momente, die man dort erlebt hat. So sehr man sich auch bemüht, im Hier und Jetzt zu sein: War man lange genug am selben Ort, wird er zu einem Gedankenmuseum und ist an manchen Tagen gar nicht mehr als Stadt erkennbar, sondern nur noch die Summe der eigenen Erinnerungen. Seinen schmerzhaftesten und zugleich hoffnungsvollsten Moment findet „Olympia“ mit dem tröstenden Post-Punk-Lullaby „Schlaf gut“. Betterovs Exit-Strategie für ruhelose Nächte und quälende Gedankenschleifen, bei denen sich das Denken buchstäblich ins Negative ver-rückt und man gedanklich ins Bodenlose fällt. Die Lösung: Einfach einzuschlafen. Mit „Olympia“ legt Betterov ein Album vor, mit dem man sich identifizieren und zur Ruhe kommen kann. Obwohl es Dinge gibt, mit denen sich trotz allem einfach nicht abschließen lässt, ist man ihnen nicht schutzlos ausgeliefert, wie der Musiker mit seinem Debütalbum zeigt. Die letzte Erkenntnis vor der Zielgeraden: Alles ist gut, so wie es ist. Finish. Siegerehrung. Das Ende in Dur und Moll. Der letzte Applaus, bevor es irgendwann wieder von vorne losgeht.

 

 

 

 

 

 

 

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