Turbostaat

Junger Punk steht breit lächelnd in kahler Raumecke vor zerschlissener Tonbandmaschine; kurzgeschorene, blondierte Haare, schnittige Sonnenbrille mit dünnen Metallbügeln, angejahrte Lederjacke über buntem Flanellhemd; Trainspotting-Ästhetik, AJZ-Odor, »alte Liebe, altes Leben, alter Zorn«. Beschriebenes Foto ist gewiss kein typisches Albumcover-Motiv - und doch ziert es das Cover vom neuen, achten Studioalbum der Husumer, Hamburger, Berliner Band Turbostaat. Der Mann im Zentrum des angegilbten Schnappschusses? Turbostaat-Stammproduzent und Toningenieur Moses Schneider in seinen späten Zwanzigern; oder in seinen frühen Dreißigern - jedenfalls in einem Lebensabschnitt vor Kamillentee und Hochglanz-Equipment, sich anschleichender Saturiertheit und arglistiger Altersmilde. Dreck, Wut, Tatendrang, Aufbruchsstimmung, rotziger Pessimismus, unverhohlen grantiger Punk-Geist - das sind die Parallelen zwischen jenem Foto und der Platte, die es bebildert. Sie hört mit Fug und Recht auf den Namen »Alter Zorn«, klingt mehr nach Stunde null als nach Spätwerk-LP und probt - anstatt friedfertig zu umarmen - den unsanft aufrüttelnden Würgegriff. Okay, geschenkt: Friedfertig umarmt haben Turbostaat ihre Hörer*innen auf musikalischer Ebene Zeit ihres Bestehens ohnehin nie. Da war immer mehr Understatement und nordfriesische Nüchternheit als Charmeoffensive oder Frohmut, immer mehr Sehnsucht als Wohlbehagen, immer mehr Krach, wirre Worte und bärbeißige Mine zum bösen Spiel als gut gelaunter Humbug. Turbostaat-Musik, das ist Punkrock, dem Wattenmeer-Nebel in den Lungen hängt - seitdem sich die Band 1999 in der schleswig-holsteinischen Provinz formiert hat und auch ein Vierteljahrhundert später. Erst kürzlich - im Spätherbst 2024 - haben Marten Ebsen, Jan Windmeier, Rollo Santos, Tobert Knopp und Peter Carstens den fünfundzwanzigsten Geburtstag ihres zur Lebensgemeinschaft gewordenen Bandprojekts gefeiert. Im Zuge dieses Jubiläums wurde die komplette Turbostaat-Diskografie auf Vinyl re-released und mittels einer ambitionierten Konzept-Tournee in acht ausverkaufte Konzertsäle der Bundesrepublik getragen. Ein Quäntchen Nostalgie und Blick in den Rückspiegel will erlaubt sein - ein Quäntchen mehr dann aber auch wieder nicht. »Alter Zorn« fordert heraus - und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es großteils im herausfordernden Jetzt zu spielen scheint und eine klammkalte Dystopie andeutet, die der Realität dramatisch ähnlich sieht. Wie inzwischen bekannt sein dürfte, sind Turbostaat keine Hymnenschreiber, keine Parolenklopfer, keine Klartexter - sondern Meister der poetischen Verschleierung, der konfusen Assoziationsketten und Metaphern, der verqueren Verkopftheit, der märchenhaften Düsternis. »Alter Zorn« macht wie alle sieben Vorgängeralben vom Umstand Gebrauch, dass es - wie im von Turbostaat-DNA durchsetzten Stück »Scheissauge« festgehalten - mindestens fünfzig Synonyme für ‚grau‘ und ‚fahl‘ gibt. Der elementare Unterschied zu den Lyrics auf Platten à la »Abalonia« oder dem zuletzt erschienenen »Uthlande«? Ein kaum erwartbarer Kulissenwechsel! Die Turbostaat-typischen, kryptisch-fragmentarischen Geschichten aus den Leben wechselnder »Er«’s und »Sie«’s spielen diesmal nur selten im Turbostaat-typischen, einsiedlerisch-maritimen Husumer Terrain. Trotz Ausreißern Marke »Den Annern sin Uhl« und plattdeutsch-seemännischem Duktus ist »Alter Zorn« ein Großstadtalbum - und zwar das erste in fünfundzwanzig Jahren bewegter Bandgeschichte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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