Tommy Finke
Tommy Finke
„Ich erinner mich an einen Tag im Bett vor ein paar Jahren/ als die Gräber uns’rer Eltern nur ein Friedhofsgrundstück waren.“
Was für ein Vers.
Was für ein Bild.
Zeilen, die die Stimmung auf Tommy Finkes neuem Album so perfekt einfangen wie die riesigen Kiefern auf dem Friedhof den Wind, der sie über die Gräber biegt. Zeilen stürmischer Melancholie, gespielt nicht als weinerliche Ballade, wie sie die nachgewachsenen Singer-/Songwriter präsentieren, sondern als schwungvoller Uptempo-Brecher mit trotzigem Humor allererster Güte. Und einem grandiosen Klangwortspiel im Refrain. Man hört: „Und wir hatten keine Pläne/ nur jung sterben, nichts vererben und bei lebendigem Leibe verbrennen.“ Tatsächlich aber singt Finke, wie sich im Beibüchlein nachlesen lässt: „… bei lebendigem Leibe verpennen.“ Der Mann will nicht ausbrennen, bevor er langsam verglüht, sondern einfach nur in den Federn bleiben. Weil er gelernt hat, dass das Leben nicht jeden Tag ein Vanillemuffin ist. „Ein Herz für Anarchie“ ist erfreulicherweise keine Jungspundplatte. Ihre Referenzen reichen weit zurück bis in die goldenen Tage von Rio Reiser, dessen Phrasierung und Stimmfarbe Takt für Takt stärker Einzug hält. Viele Rhythmen wiederum lassen einen mit nervösem Shuffle-Schlagzeug und aufgekratzten Post-Wave-Ungestüm geistig durch den Regen von London oder die Gassen von Glasgow tanzen. „Jüngstes Gericht“ wartet mit einer putzigen Synthie-Einlage auf. „Das nächste Jahrhundert“ ist die schönste textliche Verarbeitung der Enterprise-Generation um Captain Jean-Luc Picard, die je in einem Popsong, sei er deutsch oder englisch gesungen, untergebracht wurde. Finke klingt frisch wie nie, doch sein Weitblick richtet sich nach hinten und überspringt mit Schwung die vergangenen zehn Jahre. Als hätte es die gespielte Pseudozerbrechlichkeit und den selbstbesoffenen Betroffenheitspathos der deutschsprachigen Popwelt in der Zwischenzeit nie gegeben. Finke dichtet zwar humorvoll, aber verbindlich. Seine „Lieder mit Herz und Verstand gegen das postfaktische Zeitalter“ sind nicht länger die eines einsamen Grünschnabels mit Gitarre, sondern die eines musikalischen Masterminds mit Vollinstrumentierung und Lebenserfahrung, der große akustische Filme zwischen frühen Coldplay, mittleren The Cure und spätem Bosse auf die Leinwand bringt. Mit dem Werkstück Sprache weiß Finke überaus geschickt umzugehen. Nirgendwo überfrachtet er seine Lyrik mit unnötigen Ausschmückungen, doch was am Ende auf dem Blatt stehen bleibt, offenbart Substanz und Tiefe. Es lohnt, sich zweimal hinzuhören. Es lohnt sich, nachzulesen. Wenn in „Strukturwandel“ in der Mitte der Fluss fehlt, „der hier früher mal gewesen sein muss“, richtet sich die Klage des Verlusts natürlich auch gegen das seelische Vakuum im Inneren des modernen Multitasking-Menschen, der vor lauter Aufgaben und Updates sein Zentrum verloren hat. Die emotional Ausgehöhlten lecken derweil „an 9-Volt-Blockbatterien“, um zu sehen, ob sie noch leben und starren „so lange in den Abgrund rein/ bis der Abgrund sich nicht mehr sicher ist, da zu sein.“ Hin und wieder treibt ihn der Übermut sogar in Formulierungen hinein, bei denen man sich fragt, ob er heimlich die Wortspielmeister des deutschen Hiphop hört, etwa wenn die Menschen beim jüngsten Gericht am Heiligenschein verbrennen wie „in Sekten“. In „Die Revolution“ wiederum packt ihn voller bitterem Sarkasmus eine alte, ungezügelte Punk-Wut auf die wie eine To-Do-Liste abzuhakenden Standardvorstellungen eines bürgerlichen Daseins. Dabei kann Finke auf seinen persönlichen Lebensweg stolz sein, führte er ihn doch von Beginn an weitab der geraden Straße durch die charmanten Trampelpfade des Künstlerischen. Ein Studium in elektronischer Komposition an der renommierten Folkwang Universität können nur wenige Songwriter ihr eigen nennen; eine Anstellung als Musikalischer Leiter am Schauspiel Dortmund ebensowenig. „Der weiß, was er tut“, nickt da der Hörgeübte mit Kennerblick und wundert sich noch weniger über die Treffsicherheit und Cleverness der wohlgesetzten Töne. Doch allein, das wäre alles nichts wert, lebten Tommy Finkes Lieder nicht von diesem aufrichtigen und glaubwürdigen Zehren, Sehnen und Innerlich-Zerbersten angesichts schmerzlicher Erinnerungen bei ungebrochener Lebenslust und verdammt ungerechtem Verlust. „Panzer fahren im Sudan/ Atomkrieg mit dem Iran/ Taifune über Hawaii, ja das geht alles vorbei!/ aber David Bowie, David Bowie bleibt tot!“ Und die Eltern, deren Gräber vor ein paar Jahren noch ein leeres Friedhofsgrundstück waren. Für jeden, der dieses Gefühl kennt, ist diese Platte eine Offenbarung. Für alle anderen das Charakterstärkste, was man zurzeit im deutschen Indiepoprock hören kann.
Links:
www.tommyfinke.de
www.facebook.com/tommyfinke.music