Selig
Selig
Wie viele Neuanfänge kann eine Band überleben, bevor sie zu ihrer eigenen Karikatur gerät? Bevor zwischenmenschliche Verhältnisse zerrüttet, zu viele Animositäten abgearbeitet und zu viele Spannungen ausgehalten wurden? Die ursprünglich aus Hamburg stammende Rockband Selig, mit ihrem Sound zwischen dem schwelgerischen Rock der 70er, Zitaten der Grunge-90er und einer zeitlosen Einzigartigkeit, bei der sich die ebenso druckvolle Musik mit den emotional ergreifenden Lyrics von Jan Plewka verbindet, machen es vor: Es kann, wenn man nur will und das Gefühl hat, dass es immer noch Sinn macht, durchaus immer wieder von vorne beginnen. Denn wenn man, wie die Band sagt, „erstmal erkannt hat, dass das, was man da gemeinsam auf die Bühne bringt, von einem größeren Wert ist als alles, was einen vielleicht manchmal mit dem ganzen Projekt hadern lässt, dann kann man ewig weitermachen. Denn man spürt, dass da live etwas entsteht, das man so mit keiner anderen Formation jemals hinbekommen wird.“ Man könnte als Außenstehender leicht vermuten, dass der eine große Neuanfang der Band zurückgeht auf ihre Wiedervereinigung im Jahr 2008, knapp zehn Jahre nach der ersten Trennung. Erinnern wir uns kurz: Im Frühjahr 1993 beschließen Sänger Jan Plewka und Gitarrist Christian Neanderin einer Kneipe auf St. Pauli, eine Band zu gründen. Ihre ersten Songs sind geschrieben, und so laden die beiden Bassist Leo Schmidthals, Drummer Stoppel Eggert und Keyboarder Malte Neumann in den Proberaum ein. Es ist Liebe auf den ersten Ton. Ihr Sound ist beeinflusst von Nirvana, Led Zeppelin und den Black Crowes, und sie sind die Ersten, die diesen mit deutschen Texten kombinieren. Die Musikpresse nennt es German Grunge oder Hippie Metal. Außergewöhnliche Videos und eine starke Live-Präsenz sorgen für Aufmerksamkeit und unzählige ausverkaufte Konzerte und Auftritte bei den größten Festivals. Doch mit dem Ruhm kommen auch die Dämonen, und so ist nach den ersten drei Alben kurz vor dem Jahrtausendwechsel plötzlich Schluss. Es folgen Soloprojekte und andere Bands, die Fünf brauchen auch den Abstand voneinander. 2008 kündigt die Band ihr Comeback an, das Reunion-Album „Und endlich unendlich“ ist das erste, das es bis in die Top Ten der deutschen Charts schafft und eine Goldauszeichnung erhält. Seither ist die Band - so wirkt es zumindest nach außen - konstant produktiv und von großer Konstanz beseelt; es entstehen vier weitere spannende Alben, und es scheint so, als habe die Band nun ihre unverrückbare Mitte und Konsistenz gefunden. Dabei, so verrät Jan Plewka in der Rückschau, gab es auch in den 15 seither vergangenen Jahren immer wieder Momente, die für die Band wie ein Neuanfang waren; so war der Ausstieg von Keyboarder Malte Neumann im Jahr 2014 „einer dieser Momente, wo wir uns fragten, wie es denn jetzt weitergehen kann, wo wir doch immer diese Fünfer-Einheit gewesen waren. Zu bemerken, dass es aber auch zu viert und ohne Keyboard geht, zu spüren, wie viel Energie dadurch freigesetzt werden kann, hat uns aber auch diese Zäsur überstehen lassen.“ Und so geht es kontinuierlich weiter, bis zum Jahr 2021 und ihrem nunmehr achten Album „Myriaden“, erneut ein Top-Ten-Erfolg. Ihre Tourneen sind meist ausverkauft, ihre Alben werden von Presse und Fans gefeiert, und auch die Band macht ihren Frieden mit den wilden Anfangstagen. Was die Band - und da sind sich alle einig - letztlich tatsächlich zusammenhält, sind eben die Livekonzerte. Was sich auch bei den Aufnahmen zum besagten „Myriaden“-Album zeigt, das sie - womöglich aus Nostalgie, vielleicht aber auch nur, weil es so nahe liegt - noch einmal gemeinsam mit Franz Plasa aufnehmen, der auch für die Produktion der ersten Alben in den 90er-Jahren verantwortlich zeichnete. „In der Rückschau war das wohl nicht unsere beste Idee“, grinst Bassist Leo Schmidthals, „denn bei den Aufnahmen sind dann schon einige alte Wunden aufgerissen, es gab so manches Déja-vu, das man besser vermieden hätte.“ Doch es kommt noch schlimmer: Auf das Album folgt die Pandemie - eine Zeit, die der Band, deren Mitglieder geografisch mittlerweile quer über das Land verstreut sind, schwer zusetzt. Angekündigte Tourneen müssen erst verschoben und letztlich ganz abgesagt werden; die Isolation erwischt die vier Musiker, deren gemeinsame Selbstdefinition eben so sehr verknüpft ist mit dem kollektiven Unterwegs- und Auf-der-Bühne-sein, mit voller Härte. Ein ebenso tragischer wie unerwarteter Todesfall aufseiten der sie schon lange betreuenden Plattenfirma tut sein Übriges. Mit der Konsequenz, „dass Selig seit der Wiedervereinigung 2008 noch nie so nah an ihrem endgültigen Ende standen wie in den letzten zwei Jahren“, wie Jan Plewka rückblickend konstatiert. Allein: Man besinnt sich. Auf das, was man kann, was man hat und was diese Band auszeichnet. Was dabei entsteht, ist ein weiterer Neuanfang, den die Band diesmal sogar mit kraftvoller Liebe besingt. Denn ja, es ist die Liebe, die sie letztlich so miteinander verbindet, dass ein Aufhören nachgerade unredlich scheint - vor allem sich selbst gegenüber. Und so schreibt Jan einen Liebesbrief an „seine“ Jungs, den ebendiese in ihren jeweiligen Homestudios zu einem Song verdichten. Mit Jan, der die finalen Aufnahmen mitternächtlich in einem Hotelzimmer in Worpswede einsingt. So entsteht mit „Neuanfang“ einer der wohl persönlichsten und intimsten Songs, die je eine deutschsprachige Band über sich selber aufgenommen hat. „Wir sind ja Menschen mit starken Emotionen, und trotzdem war ich mir erst unsicher, ob man so einen Song überhaupt veröffentlichen kann, ohne als kitschig und anbiedernd wahrgenommen zu werden“, gibt Jan zu. „Doch der Song als solcher war letztlich einfach zu stark, um ihn nicht herzuzeigen.“ Und Christian ergänzt: „Gerade der Song beweist ja einmal mehr, wie perfekt die vier Elemente von Selig mittlerweile - und schon lange - ineinander zahnen, wie sehr aus den Einzelteilen etwas wachsen kann, das letztlich größer ist als unser rein technisches und künstlerisches Zutun.“ Mit Blick auf diesen „Neuanfang“, der als Vorbote zu ihrer Jubiläumstour erscheinen wird, haben Selig bewiesen, dass man auch im 30. Jahr ihres Bestehens noch immer in der Lage ist, einmal „Reset“ zu drücken und sich ganz zurück zu besinnen auf das, was sie ursprünglich zusammenbrachte: Die Liebe zu und Hingabe an eine Rockmusik, wie sie eben nur von diesen vier Charakterköpfen in dieser Konstellation formuliert werden kann. Wie auch die B-Seite der Single zeigt: Es ist ein Live-Mitschnitt des Songs „Unsterblich“ vom verletzten Album „Kashmir Karma“, aufgenommen 2017 bei einem Konzert in Hamburg. Ein Mitschnitt, bei dem man den rastlosen Atem der Zuschauer förmlich spüren kann, voll und ganz hingerissen von dieser makellos druckvollen Performance. Eine Performance, die man nun bald im Rahmen ihrer „Und endlich unendlich - 30 Jahre Selig“-Tour landesweit erleben können wird und die sie zwischen dem 27. Oktober und dem 15. Dezember zu 15 Konzerten durch 14 Städte in Deutschland und Österreich führen wird. „Streng genommen müsste es ja ‚20 Jahre Selig‘ heißen, zieht man das Jahrzehnt ab, in dem wir getrennt waren“, lacht Jan zum Abschluss. „Aber wir müssen ja nicht kleinlicher sein als das Finanzamt - und in unseren Knochen fühlt es sich auch nach 30 Jahren an. Aber nur, bis live der erste Ton erklingt: Dann sind wir alle vier mit einem Schlag komplett alterslos und ganz in den Songs, die uns zu verschiedenen Abschnitten unserer Leben oft die Welt bedeutet haben - und es bis heute tun.“
Links:
www.selig.eu
www.facebook.com/seligmusik