Phil Siemers
Phil Siemers
Gute zwei Jahre hat er sich Zeit gelassen für sein zweites Album — und was für zwei Jahre das waren! Eine weltweite Pandemie, gesellschaftliche Spaltung bis in Freundeskreise hinein, Feuersbrünste und Überschwemmungen, zunehmende Gewaltbereitschaft bis hin zum Krieg in Europa ... das sind nur die Spitzen einiger massiver Eisberge. Für uns alle galt und gilt: »Alles grau, Marleen, stehst im Regen, jeder Tropfen trifft dich schwer«, wie es im melancholischen Titeltrack des neuen Longplayers heißt. Aber auch: »Ich bleib hier, Marleen, wenn du willst, können wir reden. Ich lass dich nicht untergehen.« Erschöpfung und Hoffnung, Düsternis und Leuchten, Blues und Pop sind auf »Marleen« keine Ausschläge eines Pendels, sondern stehen nebeneinander. Insofern ist es ein atemberaubend zeitgenössisches, aktuelles Album für diese widersprüchlichen Zeiten. Die achtundzwanzig Monate zwischen dem Debüt »Wer wenn nicht jetzt« und heute bedeuteten viel Einschränkung, aber Phil Siemers ist es gelungen, aus der erzwungenen Geduldsprobe eine Übung in Geduld zu machen. Er hat die unerwartet gewonnene Zeit genutzt und im eigenen kleinen Studio, auf sich selbst zurückgeworfen, eine musikalische und lyrische Forschungsreise begonnen. Das Risiko einer egomanen Nabelschau umschiffte er, indem er immer wieder Gäste dazuholte: Die meisten Songs textete er zusammen mit Katharina Müller, einige mit anderen Co-Autoren. Und wenn er auch die ursprünglichen Instrumentalspuren selbst eingespielt hat, gingen die Titel auf die Reise, als dann schließlich Begegnungen wieder möglich wurden. Teils im 70er-Jahre-Charme atmenden Granny’s House, teils im Studio seines Produzenten Sven Bünger steuerten ein gutes Dutzend Gastmusiker — wie zum Beispiel der Multiinstrumentalist Lars Ehrhardt, die Drummer Timon Schempp, Lucas Kochbeck, Alexander Klauck und Silvan Strauss, Bassist Oliver Karstens, die Keyboarder Markus Schröder, Andre Haaf und Markus Kuczewski oder auch die Violinistin, Bratschistin und Cellistin Anne de Wolff — Instrumentalspuren, Ideen und Einflüsse bei. Miriam Demissie lieh mehreren Songs ihre Backing- Vocals, mit Lina Maly sang Phil Siemers das unter die Haut gehende Duett »Beim Lügen«, in dem er erkennen muss: »Wir geh’n im Kreis und geh’n zu weit, uns geht die Liebe aus.« Die Musik von Phil Siemers und auch seine Texte haben eine große Weite gewonnen, sind in die Höhe gewachsen und haben in der Tiefe Wurzeln geschlagen. Das konnten sie wohl nur, weil er mit viel von jener schon erwähnten Geduld vieles ausprobiert, verworfen, in Frage gestellt hat — so lange, bis es sich wirklich genau richtig anfühlte. Und diese Geduld, dieses Sich-Zeit-Lassen, ist auch eine Art »Gegenentwurf« zur Hektik und Kurzlebigkeit, zum Klick-Impuls-Overkill der Gegenwart. Denn die Eisberge rücken ja auch deshalb so nah, weil wir alle ständig inmitten eines Wirbelsturms aus kurzen, schnellen Informationshäppchen versuchen, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben. Musikalisch im Handgemachten, Analogen, im Soul verankert, ohne dort zu erstarren, und textlich in der Gegenwart junger Menschen verortet, ohne in Social-Media-Stakkato zu verfallen — das sind keine Widersprüche, sondern so schillert das bunte Spektrum von »Marleen«. Phil Siemers verschmilzt in Textzeilen wie »Das Beschissene am Schicksal bleibt: Es kommt auch dann, wenn du nicht dran glaubst« oder »Wie gewinnt man dieses Spiel, das man verliert, wenn man was fühlt?« abgeklärte Lakonie mit echter Traurigkeit und zugleich dem Ausblick auf eine jederzeit mögliche Wendung zum Guten. Vielleicht die einzig aufrichtige, aber mindestens eine sehr bewegende Weise, mit dem schwierigen Heute umzugehen.
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