Mia Diekow
Mia Diekow
Mia Diekow „verschollenes“ Album „Ich habe mich getroffen“ wird trotz lähmender Krankheit erscheinen – with a little help from her friends oder der Umgang mit der nicht vorhandenen Option es nicht zu tun. Die Pandemie hatte eine glückliche Nebenwirkung: Musik. Darauf haben wir uns geeinigt. Wir neigen dazu, nur das Gute sehen zu wollen. Und haben wir den Lockdowns nicht arg viele Richtungswechsel, Home-Recordings und Archiv-Veröffentlichungen zu verdanken? Die Pandemie war doch ein Segen für die Musik! An all die Alben, die durch die Pandemie nie veröffentlicht wurden, haben wir dabei allerdings nicht gedacht. „Ich habe mich getroffen“ von Mia Diekow ist ein verschollenes Album. Im Winter 2019 hatte die Singer/Songwriterin und Produzentin ihr drittes Album fertig mischen lassen. Ein Schmuckkasten funkelnder Chanson-Juwelen und vom Deutschen Film Orchester Babelsberg getragener Bühnen-Poesie. Im Sommer sollte es erscheinen, aber im März 2020 erkrankte Diekow an Covid-19, das bei ihr Long Covid, beziehungsweise ME/CFS und POTS, auslöste. Zwei chronische Erkrankungen, die der gebürtigen Hamburgerin die Lebensenergie rauben. Mal kann sie sich waschen, sich etwas zu essen kochen, mal ist selbst daran nicht zu denken. Ihre wenigen Kräfte investierte Mia Diekow in aktivistische Arbeit, um auf den Forschungsmissstand von ME/CFS aufmerksam zu machen, dreht in Kooperation mit der Charité aus dem Wohnzimmer heraus Aufklärungsfilme über ihr Krankheitsbild. Sie sagt deutlich: »Ohne eine funktionierende Therapie, ohne wirksame Medikamente werde ich keine Musik mehr machen können.« Diekow ist Mitbegründerin von »Long Covid Deutschland« (LCD), einer privaten Patient*innen Initiative, die u.a. die Bundesbehörden berät, im Lenkungsausschuss zur Therapieforschung sitzt und eine Online-Selbsthilfegruppe mit mehr als 10.000 Long COVID-Betroffenen betreut. Sollte dennoch jetzt, trotz allem — oder gerade wegen allem? — nicht auch Zeit sein, dieses verlorene Album vom Dachboden zu holen, den Staub herunter zu blasen, um es wie ein Kaleidoskop gegen das Licht zu halten? „Ich habe mich getroffen“ ist ein klassisch zeitloses Album, das Diekow mit warmer Lebensklugheit durchdringt. Ihre Stimme ist ein vielseitiges Instrument, dessen Klang zwischen hautnaher Intimität, Mundtrompete und der Grandezza der großen Bühne changiert. Wie eine Show-Masterin führt sie uns erst durch ein nass perkussives Dickicht, von dessen Blättern Wort-Choräle tropfen. Und war da ein Glöckchen? Da war ein Glöckchen. Wir laufen mit ihr durch einen musikalischen Wunderwald, der sich alsbald warm auflöst in eine Honeymilk aus R‘n‘B und Streichern (»Mosaik«), alles fließt weiter, da öffnet sich schon die Flügeltür zum großen Saal, und das Deutsche Film Orchester Babelsberg erhebt Diekow in »Der Mensch für mich« auf die Leinwand eines Films, den man weltweit nur beim Anhören dieses Albums auf der inneren Leinwand sehen kann. Man verliert sich. Bis das bluesige »Babyschritte« einen scheinbar in die Gegenwart zurückbringt. Sich nur langsam bewegen können. Nur vier Schritte machen können. »Ich habe Angst. Liebling ruf bitte einen Arzt«, singt Diekow. Hat sich die Bedeutung mancher ihrer Texte für sie gewandelt? »Babyschritte habe ich vor fast 10 Jahren nach einer Panikattacke geschrieben«, sagt Diekow, diese sei letztlich das Warnsignal gewesen, das sie dazu brachte, in Therapie zu gehen. »Und die Werkzeuge, die ich da gelernt habe, helfen mir heute enorm, mit meiner lähmenden Erkrankung ME /CFS umzugehen.« Einzig in »Peter Pan« gäbe es eine Zeile, die ich so heute nicht mehr schreiben würde: »Ich will ein Lagerfeuer machen, wo mir das gefällt.« »Das geht doch nicht — wegen der Waldbrandgefahr«, sagt Diekow. Ein Song wie ein innerer Waldbrand hingegen ist das autobiografische »Brief an den Vater«, ein Stück an einen abwesenden Vater, das einen nicht nur in seiner allerletzten reinigenden Note vollkommen auslöscht. Diekows Freundin, die Komponistin Zeina Azouqah arrangierte die Musik dazu — gespielt vom Deutsche Film Orchester Babelsberg im Rahmen ihrer Kooperation mit dem Track 15 Female Composer Collective. Azouqah arrangierte für das DFO auch den Jazz Klassiker »The Man I Love« von George und Ira Gershwin, aus dem in Diekows Übersetzung »Der Mensch für mich« wird. Für die feministische Leadsingle »OK« — Diekow schrieb sie direkt nach der Trump-Wahl — konnte sie die Grafikdesignerin Juliama gewinnen, ein Animationsvideo zu entwerfen. Auf Tour wird Mia Diekow nicht gehen können. Vielleicht wird sie von ihrer Couch aus, die ihr Partner Andreas Krambich für das Cover in Szene setzte, ein paar wenige Interviews geben können. Insgesamt aber ist es an uns, „Ich habe mich getroffen“ hinaus zu tragen — zu Augen, Ohren und tief hinein in das kanonische Geflecht.
Links:
www.miadiekow.com
www.instagram.com/mia_diekow