Hey Ruin


Die Professionalisierung der Musikbranche macht dieser Tage auch nicht mehr vor der Hardcore-Szene halt: Kampagnen-Pläne,strategisches Booking und sogar Influencer-Marketing in den sozialen Medien (!) haben inzwischen auch dort Einzug gehalten, wo Musik und Message eigentlich immer an erster Stelle standen. Was viele Bands in der Szene heutzutage, scheinbar zugunsten von vermeintlicher Erfolgschancenoptimierung, vergessen haben, haben HEY RUIN zum Glück immer noch bestens verinnerlicht. Am 24. November 2017 erscheint "Poly", das zweite Album der Köln/Trierer Punkrockband, über This Charming Man Records. Darauf hören wir eine Band, die ihre Songs so ernst nimmt wie es nur geht, und dabei nicht verkrampft auf Coolness, Klickzahlen oder Reichweite schielt. Erfrischender könnte es heutzutage kaum sein. HEY RUIN vermengen auf "Poly" 90er-Jahre Emo, Deutschpunk und Post-Hardcore mit intelligenten Texten, die sich nicht an abgegriffenen Metaphern oder billigen Phrasen entlanghangeln, sondern eine eigene Sprache finden. Sie lassen sich also gut in eine Reihe mit Turbostaat, Love A oder auch Escapado stellen, deren künstlerischer Ansatz von jeher ähnlich war. Das Debüt von Anfang 2016 war noch eine eher ungeschliffene Angelegenheit: als genügend Stücke beisammen waren, begannen sofort die Aufnahmen zum ersten Album "Irgendwas Mit Dschungel". Das war "roh, ungestüm, spontan", sagt die Band, "das kann man mögen oder nicht". Doch wie heißt es so schön? Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Mit "Irgendwas mit Dschungel“ begleitete man unter anderem KMPFSPRT oder die bereits genannten Love A und Turbostaat auf Tour, spielte aber auch viele eigene Touren. Der Songwriting-Ansatz bei "Poly" war dann ein anderer: Die meisten Songs entstanden in einem monatelangen Ping-Pong-Verfahren, bei dem alle Bandmitglieder ein Mitspracherecht im Songwriting hatten. Die neuen Songs sind so sinnvoller arrangiert und in sich stimmiger, dabei mutig genug, sich auch aus dem schon reichlich beackerten Spannungsfeld zwischen deutschem Punkrock und Hardcore herauszubewegen. Bei den Texten wurde ähnlich verfahren, "da haben wir oft über einzelne Wörter verhandelt", so Sänger Sebastian. "Poly ist das Leitmotiv des Albums. Wir wollten eine Mehrstimmigkeit zulassen. Es gibt nicht mehr nur noch die eine Art zu leben, die eine Wahrheit. Man ist nicht mehr nur noch Teil einer Subkultur. Das eine Ich gibt es nicht mehr.“ Womit wir auch zur inhaltlichen Ebene des Albums kommen. Erstmal: toll, dass es noch (deutschsprachige) Bands gibt, die beim Texten nicht vordergründig darauf achten, dass eine auf Merchandise verwertbare Mitsingparole entsteht, sondern anerkennen, dass nicht alle Zusammenhänge mit einer einfachen Universal-Wahrheit gelöst werden können! Der Album-Opener "Ram" ist ein gutes Beispiel dafür. Der Song ist einerseits ein deutliches politisches Statement zur weltweiten Flüchtlingssituation, sagt mit Zeilen wie "Eimersaufen. Augenwinkel. Betroffen sein. Ach, egal." aber auch, dass der bisher praktizierte Umgang damit noch weit weg von optimal ist. Der Titeltrack "Poly" bezieht sich auf das oben beschriebene Leitmotiv, "feiert diese Vielfalt aber nicht blind, sondern widmet sich eher der Kehrseite des Glücks. Das Jeder-für-sich-Denken, die ungerechte Verteilung, die Grenzziehung zwischen Menschen. Der Song fischt - reichlich angeekelt - einmal quer durch das Stimmenwirrwarr der Zeit." Musikalisch ist der Song sicher das bisher eingängigste Stück der Band, bleibt dabei aber immer meilenweit vom inhaltsleeren Dudel-Rock anderer aktueller Bands entfernt. "Wir waren mal wie eins / jetzt sind die Meinungen zerstreut / in allen Ecken einer Mitte / die nicht länger Mitte bleibt." Andere Songs, wie das düstere "Über dem Abfluss" mit Film Noir-Bläsereinsatz, oder das statisch-rauschende "Magneto", thematisieren das Individuum als Teil der Leistungsgesellschaft, das treibende "Mono" hingegen beleuchtet Subkultur, die zum Klischee verkommt. Zitierenswerte Zeilen gibt es unzählige auf "Poly", sogar richtige Punchlines sind dabei (Beispiel: "Für immer Halbschlaf!"), doch anbiedernd wird es nie. Durch den Einstieg des einstigen Aushilfsgitarristen Jens als vollwertiges Bandmitglied kann sich Sebastian nun auf den Gesang fokussieren. So entstehen komplexe Melodien, die stets zwischen Gesang, Geschrei und Sprechen pendeln, dabei immer so gut verständlich bleiben, dass sie ihre Wirkung voll entfalten können. Die Musik dazu ist detailreich, stets der Stimmung des Texts angepasst und Punkrock-Standards vermeidend, dabei wunderbar melodisch und stellenweise auf die richtige Art und Weise unangenehm. "Poly" ist nicht nur eine Ansammlung von neun Songs, "Poly" ist ein zusammenhängendes Album. Die Songs darauf geben sich selbst den richtigen Kontext. Das DIY-Selbstverständnis der Band ist stets präsent und macht das Album so glaubwürdig. HEY RUIN klingen auf "Poly" eigenständig wie nie und fordern, fordern, fordern die Zuhörerin und den Zuhörer, wie es Lieblingsplatten auch Jahre später noch tun. Um es in Anglizismen auszudrücken: das hier ist kein fishing for compliments, das ist real talk.

 

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