Erdmöbel
Erdmöbel
Von der Süddeutschen Zeitung wurden sie einst als “die größte deutschsprachige Band unserer Tage” gefeiert. Das war 2010, als “Krokus” veröffentlicht wurde. Seitdem gab es so viele überschwängliche Rezensionen (“Große Kunst, hierzulande unerreicht”, Stuttgarter Zeitung; “Ein heller Stern in einem sonst düsteren Unterhaltungsgenre – Fünf Sterne”, Rolling Stone; „Es fällt schwer, Erdmöbel nicht zu lieben“, Stern), dass die Gruppe nach vielen Jahren des Geheimtippwirkens auch einem größeren Publikum bekannt wurde. Aber viel mehr noch als das Feuilleton dürften sich die Fans über das 10. Studio-Album im 29. Jahr des Ensembles freuen. Schließlich machen die Erdmöbel ihre Musik in erster Linie für Menschen und nicht für die Kritik. Die Zeit formulierte wohlwollend-ratlos: “Erdmöbel passen in keine der Schubladen, in die Popmusik gerne einsortiert wird”. Wir helfen gern. Mögliche Schubladen wären: “Pop & Poesie”, “Liebe & Lakonie”, “Wunder & Widerspenstigkeit”. Wir finden, man sollte das neue Album anhören. Denn es ist gut. Aber: Lesen Sie diesen Text lieber nicht zu Ende. Hören Sie lieber das Album. Die eine Veröffentlichung anpreisenden Begleitbotschaften sind schließlich meistens Quatsch. Was soll man schon schreiben über Musik, die soeben erst in die Welt entlassen wurde? Beste Platte ever, so auch diese, ja klar. Für Trotzdem-Leser*innen: Wären Worte ausreichend, wäre „Guten Morgen, Ragazzi“ nur ein Gedichtband. Dieses Büchlein wäre dann auch ganz schnell gelesen. Zehn Texte befänden sich darin und der Titel lautete dann auch ganz anders. “Liebe und Physik”, vielleicht. Oder “Die Welt ist ein warmer Ort”. Möglicherweise auch “Schneeblind”. Oder “Kaffee oder Tee”. Einige der Texte versteht man sofort, sie sind kleine Geschichten – Alltagslyrik at its best – die von Dates bei Supermondschein handeln oder der Teilnahme an einem Radioquiz. Fast schon konkrete Poesie, wenn es heißt “3D-Drucker drucken 3D-Drucker ...” Andere Texte wiederum versteht man nicht beim ersten Lesen. Und auch nicht beim zweiten, dritten und siebzehnten Lesen. Sie bleiben geheimnisvoll. Zwar schaffen wir mittels Suche im Internet schnell herauszufinden, was ein Kaibun ist. Wer aber Frau Dr. Kremer-Ito ist, die es erklärt (und vor allem, warum), werden wir niemals erfahren, aber das ist auch egal, denn die Band danach zu fragen, würde womöglich eine Antwort hervorbringen, die so banal sein könnte, dass sie unsere schönsten Vorstellungen seifenblasenähnlich zerplatzen lassen könnte, weshalb wir einfach nicht danach fragen. Unergründlich, gerade deshalb setzt sich etwas in Gang. All das wäre ganz schön. Aber irgendetwas fehlte. Die Melodien und der Rhythmus. Woher kommt die Kapelle? Ein bisschen Beatles, ein bisschen Steely Dan. Man fühlt sich sofort zuhause. Der typisch warme Bass, die feinen Arrangements. Und dann hört und hört und hört man etwas genauer hin. Und dann sind da plötzlich neue Instrumente: hier ein paar Streicher und sogar ein Saxophon. Vielleicht ist alles etwas orchestraler als früher, aber niemals zu viel. Das ist gut, vertraut, aber auch immer wieder neu. Wie war das früher, als man freitags noch zum Plattenladen ging, in freudiger Erwartung? Damals, bevor einem alle Neuerscheinungen wöchentlich in den Streamingdienst gekippt wurden? Das vorsichtige erste Öffnen der Hülle, das erste Auflegen, hören, hören, hören. Und auch: immer wieder, die Texte dazu lesen. Und sich einfach nur freuen über neue Lieder, die die eigene Welt ein wenig bereichern. Kann man auch mal wieder machen.“Guten Morgen, Ragazzi” ist so ein Album, bei dem es sich lohnt. Schließlich gibt es vieles zu entdecken: Im Opener “Guten Morgen” einen E-Bass, der spüren lässt, dass die Tuba sein Vorläufer war. In “Bernoulli-Effekt” erfahren wir, warum es heißt “Vorsicht an der Bahnsteigkante!” Bei “Felicità” könnte man sich die Frage stellen, ob “Guten Morgen, Ragazzi” vielleicht doch eher ein Konzeptalbum über Italien ist. Seit wann macht das Vakuum Gänsehaut? Hier ist das „Das Vakuum“ ein Liebeslied an die Physik und übrigens der Schluss-Song des neuen Films mit Corinna Harfouch (Alles in bester Ordnung), der im Mai in die Kinos kommt. Die Band verspricht ein interessantes Virtual-Reality-Video zum Song. Was ist nochmal ein „Palindrom“? Dieser Song präsentiert jedenfalls eines der schönsten (und bescheuertsten) aller Palindrome: “Retsinakanister”. Pandemie und melancholische Sprachbetrachtung gibt es in “Beherbergungsverbot”. “Supermond” ist anders, die Stimme verfremdet, die Worte abgehackt, Romantik wird dekonstruiert. Kann ein Liebeslied so funktionieren? Plötzlich Politrock: “Wir sind nicht das Volk”. Das “Mädchen auf den Stufen” gelangt durch ein schwarzes Loch direkt in die Schweiz, warum? Und die “Rosa Plastiktüte”, die durch dein Zimmer schwebt, ist geradezu dafür gemacht, dass das Publikum eine einfache Melodie im Chor mitsingt, über die der Sänger der Band dann frei improvisieren kann. Hier könnten jetzt noch kluge pseudo-feuilletonistische Handreichungen folgen – in der Hoffnung, dass diese dann auch in zahlreichen Artikeln zitiert werden. Ein (Begleit-)Text, der versucht, klüger und schöner zu sein als die Musik selbst. Darauf verzichten wir an dieser Stelle. Den großen Bogen von Einstein über Rosa Luxemburg zu Albano und Romina Power möge jeder für sich selbst spannen. Was uns bleibt, ist, eine Einladung auszusprechen: Eine Einladung zum Selberhören.
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